AMA GI MAGAZIN
TAMARA ODERMATT
16.9.2025

Artikel zum Podcast: Schatzsuche im eigenen Körper – Das salutogenetischePrinzip in der KomplementärTherapie

Das Konzept der Salutogenese markiert einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitsbetrachtung. Im Gegensatz zum pathogenetisch orientierten westlichen Medizinsystem, das Krankheit möglichst exakt diagnostiziert und entsprechend den standardisierten Methoden behandelt, rückt die Salutogenese die individuellen Bedingungen auf körperlicher, seelischer und kognitiver Ebene in den Fokus, welche Gesundheit ermöglichen. Dieses ganzheitliche Verständnis impliziert, dass Gesundheit kein statischer Zustand ist, sondern als dynamischen Prozess auf einem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit verstanden wird. Gesundheit, respektive Wohlbefinden muss aufgrund der stetigen Herausforderungen, immer wieder neu „geschaffen“ werden. Dafür verfügt der Mensch über ein ihm eigenes, bewusstes und unbewusstes Regulationspotential. Diese Regulationsmöglichkeit kann man, je nach Perspektive, als Selbstheilungskraft, Selbst- oder Genesungskompetenz bezeichnen.

Im Zentrum dieser salutogenetischen Perspektive steht der von Aaron Antonovsky entwickelte Sense of Coherence (SOC) – ein Kohärenzgefühl, das sich aus drei Dimensionen zusammensetzt: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Diese drei Säulen bilden einen zentralen Orientierungspunkt in der Komplementärtherapie. Verstehbarkeit bezeichnet dabei die Fähigkeit, Lebensereignisse einordnen zu können; Handhabbarkeit das Vertrauen, über ausreichende Ressourcen zur Bewältigung zu verfügen; und Bedeutsamkeit die Motivation, Herausforderungen, Veränderungen als sinnvoll und lohnend zu erleben.

In der therapeutischen Praxis erweist sich der SOC als hilfreiches Instrument, die Klientinnen und Klienten darin zu befähigen, eigene Handlungsspielräume zu erkennen und zu nutzen.

· Mit einer Zielevaluation wird primär den Gewinn, sprich der Sinn einer Veränderung geklärt.

· Ein Anliegen in einem grösseren Zusammenhang sehen zu können, entlastet das oft Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht oder gar Schuld.

· Über die Förderung der Selbstwahrnehmung, können z.B. Frühwarnsysteme aufgebaut und Strategien zum angemessenen Umgang mit Stressoren entwickelt werden.

Ein Beispiel zeigt dies exemplarisch: Anstelle ausschliesslich körperliche Symptome wie Schulterschmerzen zu behandeln, wird nach dem dahinterliegenden Bedürfnis gefragt – etwa nach Leichtigkeit, Entlastung oder Klärung eines Konflikts. So entsteht eine Zielorientierung, die intrinsisch motiviert und über die aktivierten Ressourcen auch eine Handlungskompetenz. Diese Unterstützung der Selbstkompetenz begünstigt eine entsprechend nachhaltige Veränderung.

Die Nähe des SOC zur psychotherapeutischen Begleitung, verlangt eine professionelle Selbstreflexion. Komplementärtherapeut:innen sind angehalten, die Grenzen ihres Angebots zu kennen und Klient:innen mit psychotherapeutisch relevanten Themen gegebenenfalls weiterzuverweisen. In der KomplementärtTherapie liegt der Fokus nicht auf der narrativen Analyse der Biografie, sondern auf der unmittelbaren Erfahrung im Körper, im Hier und Jetzt.

Auch die Differenzierung zwischen SOC und Resilienz ist für die therapeutische Praxis bedeutsam. Während Resilienz die Erfahrung von einer konkreten Fähigkeit zur Bewältigung schwieriger Situationen meint, beschreibt der SOC eher ein grundlegend vertrauensvolles Verständnis vom eigenen Leben in seiner Umwelt. Beide Konzepte ergänzen sich und stärken den Menschen in seiner Handlungskompetenz und Selbstwirksamkeitsüberzeugung.

Letztlich bietet die salutogenetische Haltung – ergänzt durch die methodenspezifische Herangehensweise, wie z.B. die Arbeit mit Meridianen – einen integrativen Rahmen, um Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als erlebbaren, sinnhaften und gestaltbaren Prozess zuverstehen.

Mein heutiger Gesprächspartner:

Peter Itin

Parallel zu seiner 30jährigenShiatsu-Praxis war Peter Itin sehr stark berufspolitisch engagiert, schrieb das Fachbuch «Shiatsu als Therapie» und war und in der Aus- und Fortbildung tätig. Er war schon früh in seiner Laufbahrn im Vorstand der Shiatsu GesellschaftSchweiz. Er hat sich im Vorstand des Dachverbands Xund engagiert.  Später, in der OdA KT war er unter anderem mitverantwortlich für die Entwicklung der «Bildungarchitektur» und für das Formulieren des KT-Berufsbilds. Zuletzt wirkte er als Präsident der Prüfungskommission. Derzeit ist er nebst der komplementärtherapeutischen Praxis noch als Supervisor aktiv und unterstützt Berufskolleg:innen bei der Prüfungsvorbereitung.

Peter Itin

Weiterführende Literatur:

Itin, Peter. (2007). Shiatsu als Therapie.Books on Demand.

Meier Magistretti, Claudia. (2019). Salutogenese Kennen und Verstehen. Hogrefe Verlag Bern.

Neueste Beiträge

Zu Allen Beiträgen