AMA GI MAGAZIN
TAMARA ODERMATT
25.11.2025

Gesundheit und Krankheit aus Sicht der KomplementärTherapie

Dieser Text basiert auf dem Gespräch mit Raphael Schenker im Podcast KomplementärTherapie im Fokus, Folge 7

Der Mensch als selbstregulierendes System

In der KomplementärTherapie (KT) wird der Mensch als ein komplexes, selbstregulierendes System betrachtet. Diese Sichtweise versteht Gesundheit nicht primär als Abwesenheit von Krankheit, sondern als ein Zusammenspiel von Körper, Psyche, Lebensenergie und Umwelt. Der Mensch wird als Wesen gesehen, das zur Selbstorganisation, Entwicklung und Heilung fähig ist – vorausgesetzt, die inneren und äußeren Bedingungen stimmen.

Gesundheit als Ergebnis komplexer Selbstregulation

Komplementärtherapeutische Ansätze gehen davon aus, dass der Organismus über ein ausgeprägtes selbstregulierendes Potenzial verfügt. Diese „innere Intelligenz“, auch Lebensenergie, Dynamis oder Selbstorganisation genannt, steuert zentrale Körperfunktionen wie Verdauung, Hormonhaushalt, Atmung, Immunreaktionen und emotionale Prozesse.

Sowohl äussere als auch innere Herausforderungen können dieses energetisch-physiologische Gleichgewicht stören. Halten solche Störungen über längere Zeit an, ohne dass sie wahrgenommen werden oder eine Veränderung aufgrund mangelnder Ressourcen nicht initiiert werden kann, können Symptome entstehen – oft bevor organische Befunde sichtbar werden.

Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Patient mit nur 20 % Herzfunktion, bei dem medizinische Untersuchungen keine organische Ursache fanden, erholte sich vollständig, nachdem Verdauungsblockaden wie Gase und Zwerchfellkompression gelöst wurden. Der Herzmuskel war gesund – es fehlte ihm lediglich an Bewegungsfreiheit.

Die Rolle des Verdauungssystems bei der Krankheitsentstehung

„Sie sind nicht krank – Sie sind vergiftet“

Dieses Zitat von Dr. Stone, dem Begründer der Polarity-Therapie, fasst eine zentrale Beobachtung zusammen: Viele Beschwerden entstehen durch eine gestörte Verdauung und unzureichende Ausscheidungsprozesse. Flüchtige Verdauungsgase können den Energiefluss behindern, das Zwerchfell blockieren, die Atmung einschränken und sogar Herzrhythmusstörungen verursachen. Toxine, die durch unvollständige Verdauung oder Fehlbesiedelung des Darms entstehen, können den Stoffwechsel belasten und das Immunsystem schwächen. Gleichzeitig beeinflussen Ernährungsgewohnheiten, Stress und emotionale Belastungen massgeblich die Funktion des Verdauungstraktes.

Stress als biochemischer Giftstoff

Der Körper wird nicht nur durch äussere Einflüsse belastet, er produziert unter Belastung auch selbst toxische Stoffwechselprodukte.
Messungen in Fastenwochen zeigten, dass emotional belastende Gespräche innerhalb von 30 Minuten zu extrem sauren Urin-pH-Werten führen können. Das verdeutlicht, wie unmittelbar psychischer Stress körperliche Prozesseverändert.

Gedanken und emotionale Zustände wirken sich also unmittelbar auf den Körper aus. Ein weiterer Einfluss zeigt sich anhand der Atmung: Ein ängstlicher, angespannter oder „verengter“ Geist führt häufig zu einer oberflächlichen Atmung und so zu einer eingeschränkten Beweglichkeit des Zwerchfells. Diese Enge im Abdomen widerum schränkt, wie im obigen Beispiel durch die Gase ausgelöst, ebenfalls die Funktion des Herzes und der Verdauung ein.

Im nachfolgenden Beispiel soll die enge Verbindung zwischen körperlichen Beschwerden und emotionalen Hintergründen verdeutlicht werden. Eine Klientin litt über ein Jahr unter nächtlichem Reflux. Die medizinische Behandlung allein brachte jedoch keine dauerhafte Linderung.

Erst durch die Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden emotionalen Themen – in diesem Fall ein ungelöster Erbstreit, der sprichwörtlich „auf den Magen schlug“– wurde eine nachhaltige Verbesserung möglich. Dadurch, dass die Klientin den Zusammenhang zwischen ihren Beschwerden und der seelischen Belastung erkannte, gelang es ihr, durch gezielte Atemübungen, die Regulation ihrer Emotionen und eine Anpassung ihrer Ernährung, die Refluxbeschwerden eigenständig in den Griff zu bekommen.

Symptome sind oft nicht einfach als Fehlfunktionen des Körpers zu betrachten, sondern können auch wichtige Signale sein. Werden sie beachtet und im Zusammenhang mit den Lebensumständen gesehen, können Ungleichgewichte und die entsprechend notwendigen Veränderungen bewusst werden.

Die Unterscheidung von Gesundheitsförderung und Prävention

Gesundheitsförderung und Prävention verfolgen unterschiedliche Zielsetzungen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Während die Prävention darauf ausgerichtet ist, das Auftreten von Krankheiten zu verhindern, steht bei der Gesundheitsförderung die Stärkung der Selbstkompetenz und der Resilienz im Mittelpunkt. Dies bedeutet,dass mit der Gesundheitsförderung die Menschen befähigt werden, aktiv für ihr Wohlbefinden zu sorgen.

Elemente der Gesundheitsförderung

Im Rahmen der Gesundheitsförderung, wie sie die KT anbietet, werden verschiedene Kompetenzen und Fähigkeiten gezielt entwickelt und unterstützt. Dazu gehören:

· Die Schulung von Selbstwahrnehmung: Die Aufmerksamkeit für eigene körperliche und emotionale Zustände wird gestärkt, sodass Veränderungen frühzeitig erkannt werden können.

· Mikro-Ungleichgewichte früh erkennen: Kleine, oft zunächst unscheinbare Störungen im Gleichgewicht werden wahrgenommen, bevor sie sich zu grösseren Problemen entwickeln.

· Stressoren bewusst regulieren: Belastende Einflüsse werden erkannt und aktiv gemanagt, um negative Auswirkungen auf die Gesundheit zu minimieren.

· Emotionale Muster durchschauen: Wiederkehrende emotionale Reaktionen werden identifiziert und reflektiert, um ungünstige Verhaltensweisen zu ändern.

· Körperliche Signale ernst nehmen: Symptome werden als wichtige Hinweise des Körpers betrachtet und in den eigenen Umgang mit Gesundheit integriert.

· Ressourcen aktiv einsetzen: Persönliche Ressourcen wie soziale Unterstützung, eigene Stärken und Bewältigungsstrategien werden bewusst genutzt, um die Gesundheit zufördern.

Die Rolle von Therapeut: innen

Therapeut:innen verstehen sich in diesem Kontext nicht als „Heiler“, die für die Genesung verantwortlich sind. Stattdessen übernehmen sie die Rolle von Entwicklungsbegleiter:innen, die Menschen auf ihrem Weg zu mehr Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung unterstützen. Sie helfen dabei, Zusammenhänge zu erkennen und individuelle Lösungen zu entwickeln, sodass die Klient:innen selbst aktiv zur Förderung ihrer Gesundheit beitragen können.

Gesellschaftliche Antreiber als Krankheitsfaktoren

Ein Grossteil chronischer Beschwerden ist nicht auf organische Ursachen zurückzuführen, sondern eng mit der persönlichen Lebensführung und tief verankerten Glaubenssätzen verbunden. Besonders problematisch erweist sich ein Gesundheitsverständnis, das Gesundheit mit Leistungsfähigkeit gleichsetzt – etwa nach dem Motto: „Gut ist, wer funktioniert.“ Eine solche Haltung fördert ein dauerhaft erhöhter Stresslevel ohne, dass sich der Mensch dessen bewusst wäre. Eine Veränderung einer solchen inneren Überzeugung braucht neben der Bewusstwerdung auch einige mutige Schritte in neue Verhaltensweisen.

Die therapeutische Arbeit setzt genau hier an. Sie besteht häufig darin, zunächst die inneren Antreiber und belastenden Muster zu identifizieren. Anschliessend werden diese ungesunden Verhaltensweisen bewusst unterbrochen. Ziel ist es, gemeinsam mit den Klient:innen ein neues Selbstbild zu entwickeln, die den individuellen Bedürfnissen entsprechen und langfristig zu mehr Wohlbefinden führen.

Gesundheit und Krankheit als Entwicklungsweg

Im humanistischen Verständnis erfüllen sowohl Gesundheit als auch Krankheit eine wichtige Funktion für die persönliche Entwicklung. Symptome werden hier nicht primär als Fehler oder Defekte betrachtet, sondern können als Wegweiser wichtige Themen anzeigen.

Therapie bedeutet in diesem Zusammenhang nicht vorrangig, Symptome schnellstmöglich zu beseitigen. Vielmehr steht im Mittelpunkt, die zugrunde liegenden Zusammenhänge zu verstehen, die Eigenkompetenz der Klient:innen zu stärken sowie emotionale Prozesse bewusst zu integrieren. Dadurch wird es möglich, den eigenen Lebensweg selbstbestimmt und reflektiert zu gestalten.

Mein Gesprächspartner im zugehörigen Podcast: Raphael Schenker

Raphael Schenker blickt auf mehr als 30 Jahre Erfahrung in den Bereichen Informatik, Therapie, Lehre und Verbandsarbeit zurück. Nach seinem Abschluss als Informatik-Ingenieur an der ETH fand er über das Heilfasten den Weg zur Polarity Therapie.

Seit dem Jahr 2000 führt er gemeinsam mit seiner Frau Regine eine eigene Praxis. Zusätzlich ist er als Dozent, Autor, Kursleiter und als Co-Präsident der Prüfungskommission der OdA KT tätig. In seiner Laufbahn leitete er bereits zahlreiche Fasten- und Seminarwochen im In- und Ausland.

Links und weiterführende Literatur:

Schenker, Raphael. (2013): Richtig fasten,gesund essen: Nahrung für den ganzen Menschen. AT Verlag

Enders, Giulia. (2014): Darm mit Charme. Ullstein Buchverlage GmbH

Diszpenza, Joe. (2014): Du bist das Placebo. KOHA-Verlag GmbH Dorfen

Übersicht Polarity Therapie: https://polarity-schweiz.ch/dr-stone/

Homöopathie; Hahnemann https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Hahnemann

Bern, 20.11.2025Tamara Odermatt

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