Das Erstgespräch ist weit mehr als eine formale Einführung. Es ist ein zentrales Element der KomplementärTherapie – ein Raum, in dem sich der Mensch zeigen darf und die Grundlage für eine lösungs- und ressourcenorientierte Begleitung entsteht.
Die Kunst des Zuhörens
Wirkliches Zuhören bedeutet, dem Gegenüber volle Aufmerksamkeit zu schenken – mit Körperhaltung, Blick und innerer Präsenz. Diese Haltung ist geprägt von Respekt, Empathie und Offenheit.
Als Therapeut:in hören wir hin, nicht primär um Infos abzuholen, sondern um anzuerkennen, was sich im Leben dieses Menschen zeigt. Wir schaffen damit die Basis, damit sich Selbstwahrnehmung und Selbstkompetenz entfalten dürfen. Aktives, empathisches Zuhören und ermutigendes Nachfragen fördern Selbstreflexion und Eigenverantwortung. Sie stärken die Erfahrung, dass die Klientin oder der Klient Expert:in des eigenen Lebens ist. Diese Begegnung auf Augenhöhe erfordert Mut, sowohl von der Klientin, dem Klienten, sich zu zeigen, als auch von der Therapeutin, dem Therapeuten – denn aktives, ermutigendes Nachfragen fordert vom Gegenüber vertiefte Auseinandersetzung mit der Situation und kann Reibung erzeugen. Doch gerade diese Authentizität macht therapeutische Beziehung lebendig und ermöglicht Veränderung. 
Vom Problem zur Zielvorstellung
Meist steht zu Beginn das Problem im Vordergrund: z.B. Schmerz, Erschöpfung, innere Unruhe. Ein Problem fühlt sich immer eng an. Lösungsorientierte Zielvorstellungen sind mit allen Sinnen erinnerte Befindlichkeiten, welche bei Klient:innen oft unmittelbar eine Weitung bewirken. Stärke wird spürbar, es entsteht der Raum, in welchem Veränderung möglich wird.
Wenn ich als Therapeutin beim Problem hängenbleibe, entsteht auch in mir Enge. Es besteht je nach Therapeut:in eine erhöhte Gefahr, in den Modus zu verfallen, dieses Problem lösen zu müssen - oder zu wollen. Doch das Ziel der KomplementärTherapie ist nicht die Beseitigung des Symptoms, sondern das Schaffen von Freiräumen, in denen Heilung und Entwicklung möglich werden.
Der Kern der KomplementärTherapie
Drei zentrale komplementärtherapeutische Ziele bilden den inneren Rahmen jeder Behandlung:
Diese Ziele strukturieren das therapeutische Vorgehen, ohne dass sie explizit mit Klient:innen besprochen werden müssen. Sie schützen die Therapeut:innen jedoch unter Umständen vor einer zu symptomfixierten Arbeit und führen hin zu einer salutogenetischen Haltung – hin zu dem, was Gesundheit stärkt.
Hier setzt die lösungsorientierte Zielfindung an:
Ein Ziel ist nicht einfach „Schmerz weg“, sondern soll anziehend, attraktiv sein. Wollen wir etwas weghaben, bleibt unsere unbewusste Orientierung bei dem haften, was wir weghaben wollen, z.B. bei der Enge, welche der Schmerz mit sich bringt. Fragen wir nur schon danach, was besser ist, wenn der Schmerz nicht da ist, kann sich eine Vorstellung in allen Sinnen, also als Bild, Körperempfindung, Emotion, Geste, Klang oder Geschmack/Geruch entwickeln. Diese erlebte Vorstellung spricht das Gehirn motivierend an. 
Ein Beispiel: Eine Klientin mit Rückenschmerzen möchte wieder tanzen. Das steht für sie für Lebendigkeit, Freiheit und Weichheit, wird von ihr emotional und körperlich wahrgenommen, sie kann die Musik dazu spüren. Mit dieser verkörperten Vorstellung orientiert sich das Unbewusste bereits in die Richtung des Ziels. Es öffnet den Raum für Veränderung. Während der Behandlung wird diese im Körper spürbare Zielvorstellung immerwieder aktiviert, um die Verbindung zur inneren Kraft aufrechtzuerhalten.
Ressourcen aktivieren – Neurowissenschaftlich und praktisch wirksam
Das bewusste Erinnern und Aktivieren von Ressourcen ist ein zentraler Wirkmechanismus in der KomplementärTherapie. Neurowissenschaftlich lässt sich dies mit dem Prinzip „cells that fire together, wire together“erklären: Wenn gleichzeitig Problem- und Zielbereiche im Gehirn aktiv sind, bilden sich neue Verknüpfungen, welche Integration und Neuorientierung ermöglichen.
Taucht z.B. in der Körperarbeit ein Problemempfinden, ein Traumasog auf, können diese, breits im Erstgespräch definierten Zielvorstellungen als „übergeordnete“ Ressource zeitgleich bewusst angesprochen werden. So verbinden sich zwei verschiedene Hirnareale, jenes der negativen und jenes der positiven emotionalen Erregung.
Realistische Erwartungen und klare Kommunikation
Ein wichtiger Bestandteil des Erstgesprächs ist die Klärung von Erwartungen. KomplementärTherapeut:innen bieten keine „Ergebnisgarantie“, sondern begleiten Menschen auf einem individuellen Weg der Selbstregulation und Selbstkompetenz. Auch wenn eine Zielvorstellung erarbeitet wird, woran der Klient, die Klientin seine/ihre Veränderung beobachten kann, liegt der therapeutische Fokus auf dem Prozess. Die KT fragt danach, was der Mensch braucht, damit er sich in seiner Selbstkompetenz gestärkt um sein eigenes Wohlbefinden kümmern kann. Der Fokus liegt somit primär auf dem Weg, nicht auf dem Ziel.
Diese Sichtweise macht explizit die Komplementarität zur Schulmedizin aus und mag für viele Klient:innen und Akteure im Gesundheitswesen ungewohnt sein. DAs ist absolut nachvollziehbar. Schliesslich sind wir alle über Jahrhunderte so sozialisiert worden, dass sich Expert:innen von aussen um das Wohlbefinden eines Menschen kümmern und der Mensch selbst wenig Kompetenz dazu hat. In bestimmten Situationen hat das durchaus seine Richtigkeit: z.B. kann ich mir bei einem kaputten Zahn schlecht selbst helfen. Nach der Diagnose und der allfälligen OP kann ich aber mit entsprechenden Handlungen für eine raschere, komplikationsarme Genesung sorgen. Das nennt die KT Genesungskompetenz. Und dann gibt es Situationen, in denen die Schulmedizin dank der Selbstkompetenz des Menschen nicht nötig wird, weil Ungleichgewichte vor einer möglichen Symptomentwicklung ausgeglichen werden können.
Fazit: Vom Zuhören zur Selbstwirksamkeit
Wenn wir im Erstgespräch achtsam zuhören, empathisch nachfragen und lösungsorientierte Zielbilder entwickeln, unterstützt das auf verschiedenen Ebenen:
Bei einem Zielfindungsgespräch entsteht also weit mehr als ein Therapieplan: Es entsteht ein gemeinsamer Raum, in dem sich Menschen auf Augenhöhe begegnen und sich wieder mit ihrer Lebendigkeit verbinden. Heilung beginnt dort, wo nicht mehr das Problem, sondern der Mensch in seiner Kraft im Zentrum steht.

Georg Weitzsch
Kinesiologe, Heilpraktiker, Mitgründer und Leiter der Akademie für KomplementärTherapie in Lindau und Kooperationspartner der Heilpraktikerschule HPS in Ebikon.
https://www.kinesiologie-akademie.ch/home.html
Weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hebbsche_Lernregel:cells that fire together, wire together: a principle of neuroplasticity, first proposed by Donald Hebb in 1949, that explains how neural connections strengthen with use
Weiser Cornell, Anne: Focusing - der Stimme des Körpers folgen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 1997
Pole, Nick: Worte, die berühren: Fragen, auf die dein Körper Antwort kennt. Source of Perfomance, 2022